Der junge Bürgerrat Bildung und Lernen fordert lebensnahe Schule

„Wir haben dieses Jahr nicht ein Brett zersägt“

Gruppenfoto von 17 der Kinder- und Jugendbotschafter-/innen auf einer Dachterrasse.

Die Kinder- und Jugendbotschafter/-innen beim großen Treffen des Bürgerrats in Berlin 2022. Foto: Christoph Soeder.

Deutschland hat viele Baustellen. Die Regierung hätte es gern, dass Bürgerräte an konsensfähigen Lösungen mitwirken. Als Ansprechpartner für eine Bildungsreform bietet sich der „Bürgerrat Bildung und Lernen” an, der seit 2020 bundesweit aktiv ist. In diesem Gremium haben Menschen aus allen sozialen Schichten, Berufs- und Altersgruppen ein Sofortprogramm für bessere Bildung entwickelt, das aktueller nicht sein könnte: Denn viele Kinder und Jugendliche haben daran mitgearbeitet. Botschafterinnen und Botschafter des Bürgerrats tragen ihre Forderungen jetzt in die Politik, wie bei einem Termin im sächsischen Bildungsausschuss. Die Schülerinnen Luna Elsner und Mathilda Pfeil aus Weinböhla waren dabei.

Die 10-jährige Schülerin Luna Elsner gehört zum ganz jungen Kreis des Bürgerrats Bildung und Lernen. Vor dem Ausschuss für Schule und Bildung des sächsischen Landtags spricht sie mit ruhiger, klarer Stimme: „Ich würde jetzt auch nochmal zum lebensnahen Lernen etwas sagen wollen. Mir fällt das besonders bei uns beim Werken auf: Wir schreiben Seiten und Seiten ins Heft, aber wirklich etwas Handwerkliches lernen wir dort nicht. Wir haben dieses Schuljahr nicht ein Brett zersägt.“

Was die Schülerin hier kritisiert, treibt alle Bürgerräte um: Viel Theorie und wenig Praxis in der Schule bereiten nicht genug auf das Leben vor. Dabei spricht Luna aus jüngster Erfahrung, was ihre Aussagen so wertvoll macht.

Mitsprache für lebensnahes Lernen

Andere Kinder und Jugendliche, die in den bundesweiten Workshops des Bürgerrats mitarbeiten, äußern sich wie Luna. Gerade den Jugendlichen fehlen Alltags- und Lebenskompetenzen für die Berufswahl, Wohnungssuche oder die Steuererklärung. Kaum Unterstützung gibt es auch für das Leben online: Bundesweit kritisieren Schülerinnen und Schüler die schlechte digitale Ausstattung ihrer Schulen und mangelhaftes IT-Verständnis seitens der Lehrkräfte. Als Betroffene sehen sie sich als Teil der Lösung und fordern mehr Mitsprache. Vorerst gibt ihnen der Bürgerrat Bildung und Lernen ein Forum und ist Sprachrohr für alle Schülerinnen und Schüler ab der 3. Klasse.

Expertinnen und Experten in eigener Sache

Gerade die jungen Bürgerräte, die noch zur Schule gehen, seien unverzichtbar als Ideengeber, Expertinnen und Experten und Korrektiv für die Erwachsenen, bestätigt Klaus Peter Lohest. Er gehört zum Team, das die Workshops für Kinder und Jugendliche organisiert. Lohest erlebt die jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer als besonders innovativ und reflektiert: „Die Schüler sind Experten in eigener Sache. Ohne sie würde das Wissen fehlen”, sagt er. Anders als bei den Erwachsenen, seien Themen, wie der Schulstart ab 9 Uhr, für die jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer besonders wichtig gewesen: „Endlich hört mir mal jemand zu” oder „endlich kann ich meine Ideen zum Lernen anbringen” sind Sätze, die Lohest häufig hört.

Viel Einigkeit und Kreativität

Erwachsene, Kinder und Jugendliche sind sich aber häufiger einig als uneins: Alle wollen lebensnahe Lerninhalte, mehr Praxis- und Berufsorientierung oder Tablet-Nutzung im Unterricht sowie IT-Fortbildungen für Lehrkräfte. Einige Ideen der aktiven Schülerinnen und Schüler führen das Konzept der lebensnahen Schule aber noch weiter: Sie würden Musik in geeigneten Unterrichtskontexten oder Tierhaltung erlauben, und die Schule am Nachmittag zum „Chillen” und gemeinsamen Lernen öffnen.

Wunsch nach gleichen Chancen

Kinder und Jugendliche würden auch für Chancengleichheit sorgen: damit Schulerfolg nicht von den persönlichen Lebensumständen abhängt. Sie setzen daher gemeinsames Von- und Miteinander-Lernen am Nachmittag auf die Agenda. Ihre Begründung: Viele Kinder haben zu Hause kein eigenes Zimmer oder Hilfe bei den Hausaufgaben. Darüber hinaus würde eine große Zahl der Schülerinnen und Schüler gern länger gemeinsam lernen. Klaus Peter Lohest bestätigt das: Er höre ständig Geschichten, wie die von der Schwester, die nach der 4. Klasse keine Empfehlung für die gewünschte weiterführende Schule bekommen hat.

Foto: Patric Fouad

Auch „Digital Natives” brauchen Hilfe

Die Digitalisierung ihrer Schulen ist den Kindern und Jugendlichen im Bürgerrat ein besonderes Anliegen: nicht nur in punkto Ausstattung und Lehrkraftfortbildung, sondern auch aus praktischen Gründen. Mathilda erklärt dem sächsischen Bildungsausschuss: „Ein Punkt, den wir als Forderung aufgestellt haben, ist digitales Lernen mit Tablets. Damit ist der Ranzen nicht zu schwer und er ist auch besser für den Rücken.” Das eingesparte Papier würde sie lieber im Kunstunterricht verwenden, so die 10-jährige Schülerin.

Allen eine Stimme geben: Besuch bei „Return”

Tablets wünscht sich auch die 13-jährige Serafina, die statt der Realschule das Koblenzer Projekt „Return” für Schulverweigerinnen und Schulverweigerer der Sekundastufe 1 besucht. Dort hat Sera, wie sie kurz genannt wird, auch die Bürgerräte kennengelernt. Sie und die anderen jungen Projekt-Teilnehmenden „hätten sich wirklich gehört gefühlt”, sagt Katharina Noll vom Betreuungsteam. Nun werden Sera und der 15-jährige Juliano als Kinder-Botschafterin und -Botschafter mit dem Bürgerrat zum nächsten politischen Termin nach Berlin reisen. Wie Mathilda, hätte auch Sera lieber ein Tablet statt der schweren Bücher und einen individuellen Stundenplan: ohne die Fächer Kunst und Musik, die sie „eher nicht interessieren.” In Berlin kann sie bald ihre Vorstellungen direkt mit politischen Verantwortlichen besprechen.

Bürgerrat für Bildung, Lernen und Leben

Für Schülerinnen und Schüler, wie Luna und Mathilda aus Sachsen oder Serafina und Juliano aus Rheinland-Pfalz, ist der Bürgerrat Bildung und Lernen da. Hier arbeiten auch Gleichaltrige an einer besseren Schule fürs Leben mit: Hier wird jungen Menschen zugehört. Die Aufgaben des Bürgerrats entwickeln sich damit auch ständig weiter: nicht nur durch den Input junger Teilnehmerinnen und Teilnehmer, sondern auch durch neue Kontakte im Netzwerk, wie zum Projekt „Return”, oder durch den Austausch mit der Politik und neuen Bürgerräten. So wurden 2022 von 500 erstmals 250 Teilnehmende neu gewählt. Durch die zufällige Auswahl aus unterschiedlichsten Gruppen bildet der Bürgerrat die „Gesellschaft im Miniformat” ab, wie die Leipziger Volkszeitung schreibt. Damit qualifiziert sich der Bürgerrat Bildung und Lernen, den die Bonner Montag Stiftungen vorerst bis 2023 angelegt haben, in besonderem Maß als Ansprechpartner für die Politik.