Chancengerechtigkeit: Wie viel Freiheit braucht das Lernen?

Empfehlungen des Bürgerrats Bildung und Lernen

Braucht das Lernen Freiheit? Warum der Bürgerrat gerade dieses Thema ins Visier nimmt

Mitbestimmen heißt nicht „bestimmen“

„Nicht für das Leben, für die Schule lernen wir …“: So lautet das überlieferte Zitat des römischen Philosophen Lucius Annaeus Seneca. Vor mehr als 2000 Jahren gab er zu bedenken, wie wenig sich die damalige Lehre in seinen Augen an den Anforderungen des praktischen Lebens orientierte.

Diesen Eindruck haben auch heute viele Kinder und Jugendliche mit Blick auf ihren Stundenplan. „Mehr fürs Leben lernen“ ist eine der meistgeäußerten Antworten, wenn man sie fragt, was sich an Schule ändern sollte. Sie möchten mehr als bisher mitentscheiden können, was sie lernen und wie sie lernen.

Anders ausgedrückt kann man auch sagen, statt nur (hinzu-)nehmen, was ihnen in den Bildungseinrichtungen an Lerninhalten serviert wird, beanspruchen Kinder und Jugendliche hier für sich die Freiheit, eigene Entscheidungen treffen und mitbestimmen zu können – bei Dingen, die ihr eigenes Leben betreffen. Zu Recht. Denn genau dazu legitimiert sie Art. 12 der UN-Kinderrechtskonvention, die von 196 Staaten unterzeichnet wurde, auch von Deutschland.

Doch was heißt das nun konkret? Kinder und Jugendliche können in der Kita, in der Schule und auch der beruflichen Bildung machen, „was sie wollen“? Sicher nicht. „Freiheit muss immer auch in Verbindung mit Verantwortung stehen“, sagt Josef Watschinger im Bürgerrat-Podcast „Bildung, bitte!“. Er ist einer der Wegbereiter bei der Umsetzung des Schulautonomiegesetzes 1997 in Südtirol, mit dem den einzelnen Schulen größere didaktische, organisatorische und finanzielle Autonomie zuerkannt wurde.

Es wäre unverantwortlich, junge Lernende allein zu lassen bei der Entscheidung, ob sie rechnen, schreiben oder lesen lernen wollen. Denn können sie immer überblicken, was für ihre Zukunft wichtig ist? Und sind sie immer bereit, sich auch anstrengenden Anforderungen zu stellen?

Ohne Frage gibt es in der Gesellschaft einen breiten Konsens, dass Kernkompetenzen wie Lesen, Schreiben, Rechnen und Grundkenntnisse in Naturwissenschaften wie zum Beispiel Geografie dazu gehören, wenn es ums „Lernen fürs Leben“ geht. Schülerinnen und Schüler, Azubis und Studierende brauchen verantwortungsbewusste und bestens ausgebildete Menschen, die ihnen zeigen (können), wie es geht.

Gut beraten sind diese professionellen Lernbegleiter*innen in Kitas und Schulen, wenn sie dabei individuell auf den bzw. die Lernenden eingehen. Nicht nur bezogen auf Lerntempo der Kinder und Jugendlichen, sondern auch im Hinblick auf die unterschiedlichen Talente und Interessen. Lernen knüpft immer auch an bereits gemachte Erfahrungen an. Und die gehen schon bei Kindern im Kita-Alter weit auseinander. Der gleiche Lernplan für alle wird da keinem gerecht.

Wer sich ernsthaft für Chancengerechtigkeit stark macht, kann nicht darauf verzichten, für das Lernen zureichende Freiräume zu sichern. Auch deshalb stellt sich der Bürgerrat Bildung und Lernen die Frage: „Chancengerechtigkeit: Wie viel Freiheit braucht das Lernen?“

Das soll sich ändern

19 Empfehlungen des Bürgerrats, unterteilt in drei Bereiche – das ist das Ergebnis vieler, teils hitziger Diskussionsrunden zum Thema „Chancengerechtigkeit: Wie viel Freiheit braucht das Lernen?“. Bei der Bürgerrats-Tagung in Leipzig haben die rund 100 anwesenden Mitglieder des Bürgerrats Bildung und Lernen über jeden einzelnen dieser Vorschläge abgestimmt. Insgesamt zeigt sich: Die Bürgerinnen und Bürger wünschen sich in allen Bereichen des Bildungssystems mehr Freiheiten für junge Menschen.

Die Vorschläge und Abstimmungsergebnisse im Überblick

Vorschläge zur Frühkindlichen Bildung

Feste Grundstrukturen sollen Kita-Kindern Sicherheit und Orientierung geben.

Die Bürgerrät*innen wollen feste Grundstrukturen in Kitas durch feste Bezugspersonen und Gruppenzugehörigkeit. In einem sicheren, geborgenen Umfeld soll die Entwicklung von Mut und Selbstvertrauen gefördert werden.

Zustimmung: 92 % Erwachsene / 100 % Kinder und Jugendliche

Spielerischer Spracherwerb und Kita-Pflicht.

Der Bürgerrat setzt sich für einen interaktiven und spielerischen Spracherwerb in der Kita ein. Kinder lernen zwanglos, in der Gruppe mit anderen Kindern Sprache leicht und mühelos. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für den Schulalltag und stärkt die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Das Erlernen der Sprache soll unter anderem ermöglicht werden, indem die letzten beiden Kita-Jahre vor der Einschulung für alle Kinder verpflichtend werden.

Zustimmung: 88 % Erw. / 100 % KuJ

Kinder in die Aktivitätsgestaltung einbeziehen.

Um soziale und demokratische Kompetenzen zu fördern, sollen Kinder in der Kita lernen, gemeinsam Entscheidungen zu treffen sowie eigene Interessen durchzusetzen. Im Kita-Alltag sollen sie in die Aktivitätsgestaltung einbezogen werden. Ziel sind mutige, selbstbewusste Kinder, die Spaß an der eigenen Entwicklung und am Lernen haben.

Zustimmung: 82 % Erw. / 100 % KuJ

Kitas sollen Kinder mitbestimmen lassen.

Von Alltagsgestaltung bis zur Ausstattung – Kinder sollen im Kita-Alltag spielerisch und altersgerecht beteiligt werden.

Zustimmung: 67 % Erw. / 100 % KuJ

Kein Kita-Konzept ohne Kinderrechte.

Pädagogische Konzepte in Kitas sollen werteorientiert sein. Ein gemeinsamer Nenner soll Vertrauen schaffen. Das ist die Basis, damit kulturelle Vielfalt gelebt werden kann. Kinder sollen frei und selbstbestimmt aufwachsen. Wichtig ist dem Bürgerrat, dass das Konzept transparent ist und es damit Orientierung für alle bietet. Die Wahrung der Kinderrechte soll verpflichtend in die Konzepte der Kitas aufgenommen werden.

Zustimmung: 63 % Erw. / 100 % KuJ

Vorschläge zu Allgemeinbildenden Schulen

An Schulen soll es mehr individuelles, lebensnahes Lernen geben.

Fast einstimmig sprechen sich die Bürger*innen dafür aus, dass Kinder und Jugendliche in der Schule besser auf das Leben nach der Schule vorbereitet werden sollen. Jedes Kind soll mehr Raum für seine Persönlichkeitsentwicklung und seine individuellen Interessen und Stärken bekommen. Dafür soll es unter anderem mehr lebensnahe, altersgerechte Wahlpflichtfächer geben.

Zustimmung: 97 % Erw. / 100 % KuJ

Schulen sollen Demokratie lehren und leben.

Die Bürger*innen plädieren dafür, dass demokratische Grundwerte aktiv im Schulalltag gelebt und politische Bildung insgesamt ausgebaut werden soll. Kinder sollen altersgerecht in Entscheidungen einbezogen werden.

Zustimmung: 87 % Erw. / 100 % KuJ

An Schulen soll sich analoges und digitales Lernen sinnvoll ergänzen.

Schüler*innen sollen den verantwortungsvollen Umgang mit digitalen Medien erlernen. Empfohlen wird eine ausgewogene Balance zwischen analogem und
digitalem Lernen.

Zustimmung: 86 % Erw. / 100 % KuJ

Kinder sollen Schritt für Schritt lernen, mit Freiheit umzugehen.

Die Freiheit der Lernenden soll in einem Prozess Stück für Stück nach Entwicklungsstand (z. B. Klassenstufe) erhöht werden. So können Kinder und Jugendliche Selbstständigkeit aufbauen und entsprechende Freiräume individuell nutzen. Verpflichtende Überprüfungen sind notwendig, um Lernvereinbarungen einzuhalten.

Zustimmung: 81 % Erw. / 100 % KuJ

Schüler*innen sollen die Lerninhalte mitgestalten können.

Weniger Lehrplan, mehr Mitbestimmungsrechte durch verringerte Pflichtinhalte im Lehrplan ermöglichen Freiräume für die individuelle Mitgestaltung der Lerninhalte. Das fördert Freude und Motivation zum Lernen. Lehrkräfte unterstützen die Schüler*innen individueller.

Zustimmung: 79 % Erw. / 100 % KuJ

Wahlfreiheit zwischen Ganztag und Halbtag.

Eine große Mehrheit der Bürger*innen ist dafür, dass Kinder und ihre Eltern frei zwischen Ganztags- und Halbtagsangeboten wählen können. Und damit zwischen der Förderung im Ganztag oder in Familien und Vereinen. Dafür soll es überall ein verpflichtendes Angebot für Ganztags- und Halbtagsschulen bzw. -klassen geben. Der Ganztag soll durch ein attraktives Angebot überzeugen

Zustimmung: 79 % Erw. / 70 % KuJ

Individuelles Lern-Feedback ergänzt durch Noten ab Klasse 9.

Die Bürger*innen stimmen dafür, dass es an Schulen ein individuelles Lern-Feedback statt Noten geben soll. Erst ab der neunten Klasse soll dieses Lern-Feedback
durch Noten ergänzt werden. Das individuelle Lern-Feedback soll Schüler*innen ihre Verbesserungsmöglichkeiten aufzeigen und sie so besser motivieren.

Zustimmung: 77 % Erw. / 88 % KuJ

Hausaufgaben sollen abgeschafft und durch „Vertiefungsstunden“ ersetzt werden.

Um die Lernverantwortung zu fördern, soll es für die Schüler*innen im Stundenplan integrierte „Vertiefungsstunden“ geben – jedoch keine Hausaufgaben mehr.
Denn hier gibt es keine Chancengleichheit: Die Lernbedingungen „zu Hause“ sind für die Kinder und Jugendlichen sehr unterschiedlich. In den „Vertiefungsstunden“ unterstützen Lehrkräfte Kinder und Jugendliche mit flexiblen Übungsansätzen, um die Stärken auszuspielen und an den Schwächen
zu arbeiten.

Zustimmung: 71 % Erw. / 88 % KuJ

Achtung! Bei dieser Empfehlung gab es kein klares Abstimmungsergebnis.

Sich prüfen lassen, wenn man soweit ist.

Schüler*innen können in einer von den Lehrkräften gewählten Zeitspanne die Leistungsnachweise erbringen. Die Leistungsnachweise werden außerhalb der regulären Schulstunden erbracht. Zentrale Prüfungen (z. B. Abitur) bleiben davon unberührt. Angesichts der unterschiedlichen Lerngeschwindigkeiten trägt zur Chancengerechtigkeit bei, wenn Kinder und Jugendliche den Zeitpunkt für den Leistungsnachweis selbst wählen können.

Zustimmung: 32 % Erw. / 75 % KuJ

Vorschläge zur Beruflichen Bildung

Es soll Berufsorientierungswochen für alle Jugendlichen geben.

Die Bürger*innen empfehlen die Einführung von Berufsorientierungswochen mit einem Mentorenprogramm, um Stärken der Kinder und Jugendlichen zu identifizieren und ihnen wichtige Informationen über verschiedene Berufswege zu vermitteln.

Zustimmung: 96 % Erw. / 94 % KuJ

Berufsschulen sollen zeitgemäße Lernmethoden einsetzen.

Zeitgemäße Lernmethoden sollen die Qualität der Ausbildung von Schüler*innen an Berufsschulen steigern. Lehrende sollen entsprechend weitergebildet werden und die neuen Methoden einsetzen.

Zustimmung: 94 % Erw. / 100 % KuJ

Es soll einen standardisierten Austausch zwischen Lehrenden und Lernenden geben.

Die Bürger*innen sind sich einig, dass es eine neue Feedback-Kultur an Berufsschulen geben muss. Dafür soll ein verpflichtender, standardisierter Austausch
auf Augenhöhe zwischen Auszubildenden und den Lehrenden eingeführt werden.

Zustimmung: 90 % Erw. / 100 % KuJ

Jugendliche ohne Schulabschluss sollen bessere Berufschancen erhalten.

Jahr für Jahr kommen mindestens 50.000 Jugendliche ohne Schulabschluss hinzu, die gezielte Förderung benötigen. Die Hürden für den Berufseinstieg sollen gesenkt und dadurch insbesondere Jugendliche ohne Schulabschluss aufgefangen werden. Empfohlen wird, die Möglichkeiten zur Teilqualifizierung auszubauen und anzuerkennen. Durch Unterteilung in Ausbildungsmodule sind schnellere Erfolgserlebnisse möglich. Das baut Selbstvertrauen und Motivation auf. Die Politik soll kleine Betriebe fördern, die sich an Auffangprogrammen beteiligen. Praxisorientierte Lernwerkstätten sollen auf- und ausgebaut werden.

Zustimmung: 88 % Erw. / 76 % KuJ

An Berufsschulen soll es individuelle Lernprojekte für Jugendliche geben.

Als zusätzliches Element sollen Berufsschulen Lernprojekte einführen, die an den persönlichen Lernbedarf sowie unterschiedliche Niveaustufen der Berufsschüler*innen angepasst sind. Durch individuelle Aufgaben eignen sich Auszubildende schneller und besser Wissen an. Mehr Eigenverantwortung und sichtbare persönliche Erfolge führen zu mehr Motivation und zu weniger Ausbildungsabbrüchen. Alle Beteiligten müssen Raum für individuelle Lernprojekte schaffen.

Zustimmung: 67 % Erw. / 100 % KuJ

Digitales Berichtsheft in der Berufsausbildung.

Die Bürger*innen schlagen vor, dass in der beruflichen Ausbildung bis 2027 verpflichtend ein digitales Berichtsheft eingeführt wird, um die Qualität der Ausbildung zu sichern und zu steigern.

Zustimmung: 69 % Erw. / 71 % KuJ